Bildhauerin Ingrid Seddig

[Kunst aus Vietkow]

Ingrid Seddig
Lebenswerk
Ausstellung vom 01.10.-25.11.2006 im Rathaus der Gemeinde Leutenbach

Rede zur Vernissage am 01.10.2006

Einführung Prof. Dr. Helge Bathelt, M.A.

Wir sind ein merkwürdiges Land. Nichts ist leichter als bei uns unbekannt zu bleiben. "Der Schiller und der Hegel, der Uhland und der Hauff,  das ist bei uns die Regel, das fällt nicht weiter auf." Ob das ein sympathisches  Unterspielen ist, wie Bundespräsident Horst Köhler im Schillerjahr ausführte,  ergibt sich aus einer genaueren Betrachtung: Schiller musste außer Landes gehen, um zum Dichterfürsten zu werden, Hegel machte seine Karriere in Jena, Nürnberg und Berlin, Uhland emigrierte immerhin kurzzeitig nach Frankfurt, um in der  Paulskirche dabei zu sein und Hauff zählt nicht, weil er nur fünfundzwanzig Jahre alt wurde. Keine so tolle Bilanz!
Und mit den Genannten ist es ja noch nicht genug. Über den Einfluss des Landes auf die Gesundheit von Friedrich Hölderlin wollen wir lieber nicht spekulieren und auch nicht über die Reputation  von Philipp Melanchthon, Johannes Kepler. Justinus Kerner, Gustav Schwab, Eduard Mörike, Albert Einstein, Martin Heidegger, Ernst Jünger und Martin Walser im  ”Ländle”.

So darf es getrost als landestypisch bezeichnet werden, dass selbst unter den Eingeborenen in Leutenbach der Eine oder die Andere sein wird,  der bzw. die das Lebenswerk von Ingrid Seddig nicht kennt und erst einmal  darüber ins Staunen kommen wird, was sich hier in dieser großen Retrospektive an Fülle und Tiefe offenbart. Leutenbach zeigt das Können seiner ortsansässigen und  bedeutenden Künstlerin, das mehr als fünfzig Arbeitsjahre umfasst.

Wie  wird man übrigens eine ”bedeutende Künstlerin”? Man hat bedeutende Lehrer, bedeutende Kunstexperten, die sich mit einem beschäftigen und bedeutende  Auftraggeber und Sammler, die nicht unbedeutende Summen für die eigenen Werke  auszugeben bereit sind. Dass einen Jedermann kennt, ist keine Bedingung von  Bedeutung.

Bei unserer Beschäftigung mit dem Lebenswerk von Ingrid Seddig ist es sinnvoll einleitend zu ihren gestalterischen Anfängen zurück zu gehen und ich erinnere mich an ein Gespräch mit ihr, in dem sie berichtete, wie nach dem  Krieg ihr Talent von Paul Wedepohl an der Bildhauerschule Biedenkopf in Marburg  entdeckt und gefördert wurde. In der wirtschaftlich niederschmetternden Nachkriegszeit, in der sie sich als Flüchtling aus Pommern durchschlagen musste,  hat sie durchaus gegen einen eigenen inneren Widerstand erst ganz allmählich die  Rolle der Bildhauerin angenommen und auf sich genommen.

Eine Rolle auf sich nehmen? Das klingt ja beinahe wie: ein Kreuz tragen? Und das bei der Kunst? Wir hängen ja gerne der Vorstellung an, dass Kunst Musenkuss ist, sich von selbst verwirklicht und das bei meist leichtfertiger Lebensführung, frei bleibend von den Zwängen des Alltags wie frühem Aufstehen und feierabendlicher Erschöpfung, in bohemienhafter Unabhängigkeit und auch noch mit der Aura des  Besonderen versehen.

Stimmte etwas hiervon, so sähen die Arbeiten dieser  Künstlerin anders aus. Ihr Credo ist das der Präzision, genauester Beobachtung ebenso wie präziser Verwirklichung und vor allem durchdringt sie ein Thema  geistig und seelisch ehe es zum Werk wird.

Am Anfang stand bei ihr die  solide handwerkliche Ausbildung ohne die plastisches Arbeiten unmöglich ist. Ein  Bildhauer muss seinen Stein oder ein Holz ”lesen” können, er muss wissen, wie ein Bronzeguss funktioniert, wie er an ein Relief heran zu gehen und welchen  Bedingungen eine frei stehende Arbeit hat. Wer Brunnen macht muss etwas über Wassertechnik wissen und neuerdings besteht ein - berechtigter! - Zwang, auch  über ”Wegesicherheit” Bescheid zu wissen. Wie firm Ingrid Seddig in diesen  Dingen immer war beweist nicht zuletzt die Tatsache, dass in ihrem Atelier  eigene Bronzegüsse entstehen und nicht - wie so häufig - die Herstellung außer  Haus gegeben wird.

Neben dem soliden Handwerk, das nicht nur dem  ”Bauhaus” ein zentrales Anliegen war, neben dem soliden Handwerk also war es auch die Begegnung mit Giacomo Manzu in Salzburg, die das gestalterische Selbstbewusstsein von Ingrid Seddig nachhaltig geprägt hat.

Manzu ist  einer der wenigen ganz großen Fortsetzer europäischer Kunsttradition. Mit besonderer Beachtung war er zunächst dem Werk Picassos zugetan, greift aber auch  auf die Form und Raumauffassung der Reliefs Donatellos zurück, setzt sich mit Giovanni Lorenzo Bernini auseinander und studiert Correggio. Im Werk Rodins findet er schließlich Gestaltungen, die seinen Intentionen zutiefst entsprechen. Manzu liefert schließlich Kunstwerke in knapper Formensprache und von äußerster  Eindringlichkeit. In seinen beiden Hauptthemen - junge und anmutige Frauen und strenge Kardinäle - beweist er sich als genauer Beobachter und souveräner Gestalter. Es ist naheliegend, dass seine Kunst vom engen Dialog mit Johannes  XXIII. beeinflusst war.

Nach eigenem Bekunden hat sich die Arbeit in seinem Atelier für Ingrid Seddig als bestimmend erwiesen, weil sich Manzus  stupende Fähigkeit im Modellieren in die eigene Praxis ebenso übertragen ließ  wie die Erschaffung der dreidimensionalen Form als Ergebnis eines reflektierten  und philosophisch begründeten Ausdruckswollens.

Wenn wir uns nun die Kunstszene in der jungen Bundesrepublik anschauen, so müssen wir uns daran  erinnern, dass die Kontroverse um den Gegenstand - etwa zwischen Sedlmayr und  Baumeister - massiv geführt wurde. Vor dem Hintergrund der Kunstprodukte des  Dritten Reiches konnte der Disput kaum zugunsten gegenständlich arbeitender  Künstler ausgehen. Für sie gab es vor allem ein Rückzugsgebiet, nämlich den  Auftraggeber ”Kirche”. Der Kirche ging es um eine allgemein einsehbare  Darstellung der Heilslehre, mit dem Bedarf an einer schnörkellosen Formulierung als einzig möglicher Konzession angesichts einer strukturellen  Bilderfeindlichkeit in der evangelischen Predigerkirche. Damit blieben weite  Teile der Moderne aus dem Kirchenraum ausgeschlossen. Die katholische Seite tat  sich hier gelegentlich leichter, wie schon das Werk Georg Meistermanns zeigt.  Vibrierend lebendige Fassungen wie Corbusiers ”Notre Dame du Hautes” fanden hier  kaum - und wenn dann allenfalls in der Lichtregie - eine Nachfolge. Betrachten wir auch noch die bedeutenderen deutschen Architekten mit ihren Arbeiten ab der  Mitte des 20. Jahrhunderts, so findet sich im Kirchenbau neben Alexander Freiherr von Branca, Walter Neuhäusser, Frei Otto und Wilhelm Riphahn nicht  viel. Vor lauter Bestreben nach Demut und Bescheidenheit wurde das Marketing durch gelungene Sakralbauten von den kirchlichen Auftraggebern doch sehr  unterschätzt..

Aus dieser Situation hebt sich das Werk von Ingrid Seddig  heraus. Dort, wo ihre Arbeiten in den Kirchenraum eintreten, greifen sie sofort über jede funktionale Präsenz hinaus und werden zu Manifesten des christlichen  Glaubens. Über der Mensa dominiert ein Christus triumphans, der das überwundene  Leiden dennoch ausweist. Die Reliefs der Pulte und der Taufsteine zeigen  wohlkomponierte Szenen der Heilsgeschichte und die Eingangsportale verweisen mit  ihrem plastischen Personal auf die Qualität des Ortes, den zu betreten der Besucher sich eben anschickt.

Oft hat Ingrid Seddig die plastische Arbeit  ganz selbstverständlich als raumbeherrschende Ikone inszeniert, wenn sie beispielsweise ihren Heiland aus Bronze in eine mächtige Lineatur fügt, die  augenfällig Erde und Himmel verbindet (vgl. u.a. evang. Kirche Berkheim).

Es ist unübersehbar, dass die Kunst Ingrid Seddigs den christlichen Kirchenraum als Ort der Besinnung, der Zuflucht und der Gewaltlosigkeit  gestaltet. Manchmal ist die Gegenwart danach, dass ein solcher Aspekt - jetzt  ”Gewaltlosigkeit” - stärker nach vorne kommt und da ist auch gut so, weil die Botschaft solcher Räume über die heute typisch gewordene oberflächliche Sensationslust und den Mangel an Beschäftigungstiefe unendlich weit hinaus  reicht.

Dort, wo die Besinnung im Mittelpunkt steht, geht Ingrid Seddig im Abstraktionsgrad am weitesten, setzt Felder in unterschiedlicher  Oberflächenbeschaffenheit gegeneinander und lässt sie vortreten und  zurückweichen, so dass ein atmender Rhythmus entsteht, der das ihm gegenüber  Treten erleichtert: ja nahe legt. Diese Gestaltungsform ist dann auch in den öffentlichen Raum mit seinen eigenen Aussagen übertragbar. (vgl. Ev. Kirche  Aalen und Schwabenlandhalle Fellbach).
Es ist schön, dass in dieser Ausstellung gerade die Kirchenkunst durch vorzügliche Fotografien so präsent  ist. In der Betrachtung des Lebenswerkes der Künstlerin kommt diesem Bereich die höchste Bedeutung zu, weil er bleibt, öffentlich bleibt und einen fortwährenden  Beitrag zum Geistigen in unserer Gesellschaft leistet. Vielleicht trägt diese  große Retrospektive auch dazu bei, dass die Kunst Ingrid Seddigs überall eine angemessene Würdigung findet. Plakatierungen sind wichtig - noch dazu wenn sie auf die Aufgaben der chrtistlichen Gemeinschaft hin weisen - aber das Dauerhafte als Ausdruck des Spirituellen verträgt keine multifunktionale Nutzung, denn der Wert, den es transportiert ist der Eigentliche und Tiefste der  Botschaft.

Ausschließlich dem Spirituellen Ausdruck zu geben, bedürfte  der mönchischen Einstellung eines Fra Angelico. Ingrid Seddig ist nie einer  solchen Reinkultur angehangen, sondern hat auch weltliche Aufgaben überzeugend bearbeitet. Klassische Themen wie das Portrait, die Vollfigur, die Gruppe und auch Pflanzen und Tiere lässt sie in klaren und flüssigen Kantlinien entstehen, bleibt in der Individualisierung zurück haltend und nimmt die Figuration immer als Zeichen für ein Alter, eine Situation, einen Charakter und erleichtert es  damit ihrem Publikum an den Inhalten persönlich Anteil zu nehmen und sie im eigenen Erfahrungsschatz zu spiegeln.

Es ist verdienstvoll, dass in  unserer heutigen Ausstellung die Fülle des Vorhandenen sich gebändigt sieht durch eine Zuordnung zu den großen Gegenstandsbereichen, die Ingrid Seddig in  ihrem Künstlerleben bearbeitet hat. Solche Bereiche sind Tierdarstellungen, heraldische Arbeiten, grafische Arbeiten - Linolschnitte und Karten - ,  allgemeine Auftragsarbeiten, Arbeiten mit Glaubensinhalten und immer wieder steht der Mensch im Mittelpunkt, entsteht als Portrait oder als Ganzfigur in  Holz oder im Guss, als Relief oder vollplastisches Werk.

Schon die frühen Arbeiten aus den fünfziger Jahren - etliche Mädchenfiguren - beweisen eine große Meisterschaft in der Gestaltung und vertreten eine natürliche und ganz  unmanierierte Schönheit. Genauso kostbar sind die Tierdarstellungen, von denen es hier Beispiele von 1958 bis 2005 gibt. In der reduzierenden Erfassung des  Wesentlichen dürfen wir uns getrost an Giambologna erinnern und zwar an seine  Arbeiten, die im Palazzo del Bargello in Florenz ausgestellt sind.

Dass die Personengruppe in diesem Werk eine wichtige Rolle spielt, zeigt die im Außenbereich angesiedelte ”Diskussion”. Unterschiedliche Körpergrößen und  -haltungen, Dominanz und Zurückhaltung, zirkelhafte Geschlossenheit und geöffnete Zwischenräume a la Moore führen zur ”sprechenden Plastik”, der sich  die Betrachter in passender Größe zugesellen können, um am Gespräch teil zu  nehmen.

Betrachtungen sollen Freiräume übrig lassen und deshalb wollen wir nun zum Ende kommen, aber noch einen letzten Aspekt anfügen

Ingrid Seddig gehört zu einer Generation gereifter Menschen, die für die Entwicklung  unserer Republik Maßstäbe gesetzt haben. Nationalsozialismus, Krieg und  Vertreibung. Not und Entbehrung waren harte Lehrmeister, aber sie haben Erfahrungen vermittelt, die es unmöglich machten, den Nächsten aus den Augen zu  verlieren. Der oft geschmähte ”Rheinische Kapitalismus” der Adenauer- oder Bonner Ära wusste sehr viel mehr von einem Sozialverhalten als viele heutige  Topmanager, deren Religion share holders value heißt und für die der Mensch ausschließlich ein Kostenfaktor ist: Betrachten wir das Werk dieser heute achtzigjährigen Künstlerin aufmerksam, dann hilft es das Humanum zu wahren und was könnte eine größere Aufgabe der Kunst sein?

Es ist ein großes Glück  gewesen, dass Ingrid Seddig noch bis zum Beginn dieses Jahres Kunst schaffen  konnte. Heute aber besteht nach zwei Schlaganfällen kaum Aussicht auf eine  Fortsetzung. Das Lebenswerk - wie in dieser Ausstellung gezeigt - muss als abgeschlossen angesehen werden und für die Künstlerin gilt, dass sie mit  Genugtuung auf das Geleistete zurückblicken kann und ihr Publikum darf dankbar sein, dass es an ihrem Werk teilhaben konnte und weiterhin teilhaben  wird.


Wir danken der Gemeinde Leutenbach für die Genehmigung zur Veröffentlichung der Rede auf dieser Homepage.

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Ingrid Seddig - das Lebenswerk - Bedeutende Künsterlin aus Vietkow stellt aus

Eine außergewöhnliche Ausstellung dürfte viele Pommern interessieren: In Leutenbach nördlich von Stuttgart findet im Rathaus bis zum 25. November eine äußerst interessante und vielseitige Darstellung von Werken der Bildhauerin Ingrid Seddig statt. Wer ist Ingrid Seddig? Sie wurde 1926 in Vietkow (Kreis Stolp) geboren, erlebte die menschenunwürdigen Schicksalsjahre unter Russen und Polen und die Vertreibung im Herbst 1947. Nach entbehrungsreichen Nachkriegsjahren wurde sie als Bildhauerin in der Bildhauerschule in Biedenkopf und während des Studiums in Salzburg ausgebildet. Ihre Werke fanden ab 1960 Beachtung in mehreren Ausstellungen in Deutschland, Frankreich und Italien.

Viele Pommern haben ihre Arbeit im Pommern-Zentrum bewundern können, denn dort schuf sie das Barbarafenster und die kupfernen Eingangstüren in der Versöhnungskirche. Der größte Teil ihres intensiven Schaffens ist allerdings im Raum Stuttgart zu erleben. Hier schuf sie im sakralen und kommunalen Bereich Werke von großer Bedeutung. In Kirchen und auf öffentlichen Plätzen ziehen ihre Werke den Betrachter in den Bann: so vor dem Kurhaus in Bad Cannstatt, wo das Vertriebenendenkmal an das Schicksal deutscher Vertriebenen erinnert und der Wille zur Versöhnung in dem Abdruck der Charta der Vertriebenen dokumentiert wird. Versöhnlich sind ebenso die vielen Beispiele der Kirchenkunst, ein helles Kreuz als Symbol der Hoffnung in einer Friedhofskapelle, der auferstandene Christus in der Kirche in Berkheim, ein Altarkreuz mit den vier Evangelisten in der Lutherkirche in Fellbach. Sie seien hier nur als Beispiele genannt. Wie kam es zur Begegnung mit dem Lebenswerk Ingrid Seddigs? Unsere aktive Dorfgemeinschaft der ehemaligen Kirchengemeinde Wendisch Silkow und Vietkow im Kreis Stolp trifft sich jedes Jahr zu einem Beisammensein. Im September vorigen Jahres lud uns Ingrid Seddig, die sich seit 2000 unserer Dorfgemeinschaft eng verbunden fühlt, ganz spontan zu einem Treffen nach Leutenbach ein. Dort sei 2006 eine Ausstellung vieler ihrer Werke geplant. Unsere Landsleute nahmen die Einladung sofort an, obgleich lange Anfahrtswege nach Stuttgart zu meistern waren. Frau Seddig organisierte, plante begeistert, traf gleich im Herbst 2005 die Vorbereitungen für das Treffen. Und Ende September 2006 ging nun ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung: 30 Personen machten sich auf den langen Weg und waren am 1. Oktober 2006 bei der Vernissage im Rathaus von Leutenbach zugegen. Wie überrascht waren wir über die große Vielfalt der Arbeiten aus den letzten 50 Jahren. Auf vier Etagen waren - dank des Konzeptes ihrer Tochter Ina Seddig - unzählige Werke in Stein, Bronze, Keramik, Holz, Aluminium zu bewundern. Wir staunten nicht schlecht, hatten wir doch nicht geahnt, was für eine hervorragende Bildhauerin “unsere Ingrid” ist, die sehr bescheiden bei unseren Treffen nie über ihre Arbeit gesprochen hat. Sie erfreute uns stattdessen mit kleinen Sketchen und Theaterstückchen.

In den Glasvitrinen bewunderten wir kleinere Bronzegusse, an den Wänden waren durch große Fotos ihre Arbeiten im sakralen und kommunalen Bereich dokumentiert, dazwischen gab es Bilder und Karten im Linolschnitt. Erstaunlich war für uns, alleine vom handwerklichen Können her ihre körpergroßen Skulpturen in Bronze zu begreifen! Immer wieder ist der Mensch Thema ihres Schaffens - in der Flora, in der Architektur, in der Begegnung, im Tanz, in der Diskussion wie auch in der Beziehung zum christlichen Glauben. Wir waren des Bewunderns voll, und ich denke, daß es den meisten Besuchern der Eröffnung ähnlich ging.

Die Ausstellung nennt sich “Lebenswerk von Ingrid Seddig”, sie kann als Abschluß eines lebenslangen Schaffens betrachtet werden. Nach drei Schlaganfällen in diesem Jahr ist Ingrid Seddig nicht mehr in der Lage, ihre Arbeiten fortzusetzen oder zu vollenden. So sind wir als Dorfgemeinschaft ganz besonders dankbar und auch stolz, daß wir zu dieser Ausstellung eingeladen wurden und “unsere” Ingrid und die Vielfalt ihrer Werke erleben durften. Wir hoffen, daß viele Menschen noch bis Ende November die Möglichkeit haben, die Arbeiten dieser herausragenden pommerschen Künstlerin zu betrachten. Sie wird im Stuttgarter Raum, im Pommern-Zentrum und an vielen Orten in Deutschland und auch im Ausland in ihren Werken weiterleben, Werke die uns alle überdauern werden. (...)

Erdmute Gerst (Artikel auch veröffentlicht in PZ, Folge 45/06)

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Am 28.04.2001 erschien in der Pommernzeitung ein Artikel über Ingrid Seddig anläßlich ihres 75. Geburtstages. Verfasst wurden die Zeilen von Brunhilde Stiefel, geb. Seddig:

“Woher kommt Ingrid Seddig? Wie kam sie zur Kunst? Das ist eine Geschichte für sich. Aus einem Land kommt sie, das es so als deutsche Provinz nicht mehr gibt - aus Pommern!
Von Kunst wurde in ihrer Jugend wirklich nicht geredet, schon gar nicht in jener Zeit, als es vorerst nur um das nackte Überleben ging. Ihre erste Begegnung mit dem Handwerk hatte sie in der Tischlerei unter polnischer Verwaltung. Sie wurde vom Tischlermeister Herbert Warnoch geleitet. Sieges-Tore für die Russen, Weg-Kreuze für die Polen und maßgerechte Holzschuhe wurden angefertigt. Ingrid Seddig wurde im Winterhalbjahr 1947/48 vertrieben und landete im Hessischen. Sie übte zunächst verschiedene Tätigkeiten aus. Durch eine schwere Krankheit begann sie, über ihr künftiges Leben nachzudenken. Sie wollte gerne selbständig und unabhängig sein. Sie finanzierte sich durch Nähen in den Abendstunden ein dreijähriges Studium an der Kunstschule in Biedenkopf-Marburg bei dem Lehrer Paul Wedepohl. Er erkannte ihre Begabung zur plastischen Kunst. Auf seinen Rat hin besuchte sie die Kunstakademie in Salzburg bei Prof. Manzu. Sein pädagogisches Rezept ging von der Hand ohne Werkzeuge aus, so brachte er sie konsequent zum plastischen Sehen. Ihre freien Arbeiten kamen über Tierplastiken zum Porträt, vorrangig beschäftigte sie der Mensch als soziales Wesen, in der Natur und im Gespräch, ausgeführt in Holz, Marmor, Bronze und Aluminium.
Speziell für das Pommern-Zentrum in Lübeck-Travemünde schuf sie für die Versöhnungskirche die beiden Portale in Kupfer getrieben und das Barbarafenster (Bleiverglasung). Speziell für alle Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges schuf sie ein fast drei Meter großes Mahnmal in Stuttgart-Bad Cannstatt (Einweihung 1986). U.a. dokumentiert ein Text der “Charta” auf dem Sockel den Verzicht auf Rache und Gewalt, aber auch das Recht auf die Heimat.
1998 wurde ihr für ihr Schaffen von der Pommerschen Landsmannschaft während der Eröffnungsveranstaltung in Greifswald der Pommersche Kulturpreis verliehen.
Die Jubilarin ist eine begnadete und anerkannte Künstlerin geworden und durch Ausstellungen im In- und Ausland bekannt. Sie ist die beste Botschafterin ihrer verlorenen Heimat, die auch durch ihre Werke noch nach Jahrhunderten weiterleben wird. Wir sind sehr stolz auf sie!”
 

[Kunst aus Vietkow]